Der türkische Staat ist kein geeignetes Schutzobjekt.
Verteidigung fordert Rücknahme der Verfolgungsermächtigung und Einstellung des Verfahrens.
Zum Beginn des Prozesses gegen zehn türkische Linke vor dem OLG München.
Am 17. Juni 2016 beginnt vor dem Oberlandesgericht München der größte Staatsschutzprozess in Deutschland seit Ende der 1980er Jahre. Angeklagt nach § 129b StGB sind zehn türkische Kommunist_innen, denen vorgeworfen wird, das sogenannte Auslandskomitee der TKP/ML (Kommunistische Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch) gebildet zu haben.
Wir begreifen dieses Verfahren als Auftragsarbeit für den türkischen Staatspräsidenten Erdogan.
Die TKP/ML ist nur in der Türkei eine verbotene Organisation. Weder in Deutschland noch in anderen europäischen Staaten ist sie mit einem Verbot belegt und befindet sich auf keiner der nationalen und internationalen Terrorlisten. Keinem unserer Mandanten wird – außer der Mitgliedschaft in der TKP/ML – eine Gewalttat oder irgendeine andere strafbare Handlung in Deutschland vorgeworfen. Die TKP/ML soll laut Verfassungsschutzberichten seit Jahrzenten in Deutschland aktiv sein. Seit 2006 ermittelt das BKA gegen die Organisation. Doch erst im April 2015 werden mit unseren Mandanten erstmals Personen wegen der angeblichen Mitgliedschaft in der TKP/ML verhaftet.
Nicht nur der Zeitpunkt der Verhaftung zeigt den politischen Charakter. Vielmehr war die strafrechtliche Verfolgung unserer Mandanten überhaupt nur möglich, weil das Bundesjustizministerium (BMJV) – ähnlich wie im Fall von Böhmermann – die Erlaubnis hierzu erteilt hat. Das BMJV soll bei der Erteilung dieser sogenannten Verfolgungsermächtigung die außenpolitischen Interessen Deutschlands berücksichtigen. Dies hat das BMJV offensichtlich getan. Gute Beziehungen zu der Türkei ist die derzeitige außenpolitische Maxime. Auch soll das BMJV prüfen, ob die ausländische Organisation, die in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden soll, sich gegen einen Staat richtet – hier also die Türkei –, der die Würde des Menschen achtet. Diese Prüfung hat das BMJV offensichtlich – aus außenpolitischen Erwägungen – unterlassen. Wie sich derzeit an der Autokratie Erdogans, der türkischen Unterstützung des IS und der Verfolgung Oppositioneller zeigt, ist die Türkei kein Staat, der die Würde des Menschen achtet. Trotz dessen werden linke türkische und kurdische Organisationen derzeit in einem Ausmaß in Deutschland strafrechtlich verfolgt, das es bisher nicht gegeben hat. Diese Strafverfolgung ist nur außenpolitisch zu erklären und als ein weiteres Zugeständnis an Erdogan und eine Verlängerung von dessen Verfolgungshandlungen zu sehen.
Aus diesem Grund fordern wir die Bundesregierung auf, die Verfolgungsermächtigung zurückzunehmen.
Zum Hintergrund
Unseren Mandant_innen wird rechtlich die Mitgliedschaft bzw. die Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach § 129b StGB vorgeworfen, der einen Strafrahmen von einem Jahr bis zehn Jahren Haft vorsieht, für den Rädelsführer sogar bis zu 15 Jahren Haft.
Die 1972 in der Türkei gegründete TKP/ML ist laut Angaben des Verfassungsschutzes in Deutschland seit mindestens den 1980er Jahren aktiv – ausschließlich politisch. Laut der Anklageschrift soll sie in der Türkei auch eine bewaffnete Organisation – die TIKKO – unterhalten, der diverse Anschläge, unter anderem gegen Angehörige der Polizei und des türkischen Militärs, vorgeworfen werden. Sie ist auf keiner der vielen internationalen Terrorlistungen aufgeführt und wird nur der Türkei als Terrororganisation verfolgt.
Unseren Mandantinnen und Mandanten werden keine konkreten Straftaten vorgeworfen, lediglich die politische Betätigung für die TKP/ML. Bisher wurde in Deutschland gegen Personen wegen der Mitgliedschaft in der TKP/ML kein Strafverfahren geführt. Schon bei Verfahren wegen des ausschließlichen Vorwurfes der Mitgliedschaft in einer inländischen terroristischen Vereinigung gem. § 129a StGB wird immer wieder – zu Recht – der Einwand erhoben, dass es sich dabei um politisches Gesinnungsstrafrecht handelt. Der Vorwurf der politischen Einflussnahme trifft bei Verfahren nach § 129b StGB im besonderen Maße zu. Für die strafrechtliche Verfolgung einer ausländischen Organisation gemäß § 129b StGB bedarf es einer sogenannten Verfolgungsermächtigung, die durch das Bundesministerium für Justiz erteilt wird. Bei der Entscheidung über eine Verfolgungsermächtigung sollen ausdrücklich die außenpolitischen Interessen Deutschlands berücksichtigt werden. Laut Gesetzestext soll das Ministerium dabei in Betracht ziehen, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet und insgesamt als verwerflich anzusehen sind (§ 129b Abs. 1 S. 5 StGB).
Nach Ansicht der Verteidigung sind diese Voraussetzungen in dem Verfahren gegen die zehn Angeklagten nicht gegeben. Der türkische Staat kann in seiner derzeitigen Verfassung nicht als eine die Würde des Menschen achtende staatliche Ordnung angesehen werden. Türkische Behörden, insbesondere der Geheimdienst MIT, unterstützt seit mehreren Jahren die terroristische Vereinigung „Islamischer Staat“ durch die Lieferung von Waffen, durch die Behandlung verletzter IS-Kämpfer und durch die Duldung von Angriffen des IS auf die kurdischen Gebiete in Syrien vom türkischen Staatsgebiet aus. Der türkische Staat verletzt damit in vielfältiger und schwerwiegender Weise das Völkerrecht und verstößt gegen bindende Resolutionen des UN-Sicherheitsrates.
Der türkische Staat verletzt auch die Menschenrechte der in seinem Staatsgebiet lebenden Menschen. Die in dem letzten Jahr intensivierten Angriffe auf kurdische Städte und Dörfer durch das türkische Militär und die türkische Polizei führten zu starken Zerstörungen und einer Vielzahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung. Rechtsstaatliche Garantien existieren nur noch auf dem Papier, da Erdogan offen Einfluss auf die Justiz nimmt. Die Pressefreiheit ist faktisch aufgehoben. Große oppositionelle Zeitungen müssen schließen, kritische Journalist_innen werden entlassen. Gegen eine Vielzahl von ihnen werden Strafverfahren geführt. Jüngst wurden kritische Journalist_innen wegen der Berichterstattung zu der IS-Unterstützung des türkischen Staates zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Allein im Juni 2016 werden in Istanbul Verfahren gegen ca. 50 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte geführt, denen aufgrund ihrer Tätigkeit als Strafverteidiger die Unterstützung terroristischer Organisationen vorgeworfen wird. Auch hier drohen mehrjährige Haftstrafen. Einige Rechtsanwälte befinden sich derzeit deswegen in Untersuchungshaft.
Kurdische Politiker_innen werden unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung verfolgt. Diese Verfolgung gipfelt derzeit in der in der türkischen Geschichte einmaligen Aufhebung der Immunität von über einem Viertel der Abgeordneten des türkischen Parlamentes. Vor allem die Angeordneten der prokurdischen und linken HDP müssen nun mit einer Strafverfolgung rechnen. Über jede Form der kritischen Meinungsäußerung und oppositionellem Handeln schwebt das Damoklesschwert der strafrechtlichen Verfolgung wegen terroristischer Tätigkeit, wie es auch jüngst die EU kritisiert hat. Eine derartige staatliche Ordnung, die die Menschenrechte mit Füßen tritt, ist kein geeignetes Schutzobjekt des deutschen Strafrechts.
Unsere Mandantinnen und Mandanten sitzen seit nunmehr über 14 Monaten in Untersuchungshaft. Während tagtäglich Flüchtlingsheime in Deutschland brennen, hat der Generalbundesanwalt einen immensen Aufwand betrieben, um unsere Mandantinnen und Mandanten zu verfolgen. Vier der Angeklagten haben ihren Wohnsitz in Österreich, der Schweiz und Frankreich. Drei von ihnen wurden auf Betreiben des GBA in diesen Ländern festgenommen und an Deutschland ausgeliefert. Gleichzeitig werden wir in unserer Verteidigung massiv eingeschränkt. Obwohl das BKA seit 2006 einige unserer Mandanten beobachtet, ohne Anlass für eine Festnahme zu sehen, gelten sie seit ihrer Verhaftung als so gefährliche Terroristen, dass sie noch nicht einmal frei mit ihren Verteidigern kommunizieren können. Wir als Verteidiger_innen dürfen mit unseren Mandant_innen nur in Zellen mit einer Trennscheibe reden, d.h. wir können uns nur über Mikrofone verständigen und noch nicht einmal ein Blattpapier zum Lesen austauschen. Der Inhalt unserer Verteidigerpost wird durch einen Richter gelesen und erreicht unsere Mandant_innen deshalb regelmäßig erst Wochen nach der Absendung.
Wir begreifen dieses Verfahren als Auftragsarbeit für den türkischen Staatspräsidenten Erdogan.
Wir fordern deshalb die Rücknahme der Verfolgungsermächtigung durch das Bundesministerium der Justiz, eine Einstellung des Verfahrens sowie die Freilassung unserer Mandant_innen!
München, den 16.06.2016
Information
https://www.tkpml-prozess-129b.de
RA Alexander Hoffmann: info@anwalthoffmann.de
RA Dr. Peer Stolle: stolle@dka-kanzlei.de
Verteidigerinnen und Verteidiger
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