OLG-München: Die Situation in der Türkei spielt für das Verfahren keine Rolle: Nicht der Putsch der Militärjunta von 1980, nicht der Putschversuch vom 15. Juli 2016 und seine Folge, nicht die Struktur des türkischen Staats oder die aktuellen politischen Entwicklungen
Nachdem der 29. Verhandlungstag keine Besonderheiten aufwies, weil ein mal mehr Dokumente, die der TKP/ML zugerechnet werden, verlesen wurden und Widersprüche und Beanstandungen des gerichtlichen Vorgehens von der Verteidigung vorgebracht wurden, verlief der 30. Verhandlungstag am 12.12.2016 turbulent:
In einem ausserhalb der Hauptverhandlung an die Verteidigung übersandten Beschluss hatte das Gericht festgestellt:
„Auch wenn der Generalbundesanwalt ein Strukturverfahren führt, so ist im vorliegenden Verfahren vor dem Oberlandesgericht München kein Bedürfnis der Verteidigung erkennbar, ,,zu erfahren, wie der türkische Staat gegen die Organisation vorgegangen ist und aktuell vorgeht”. Auch Informationen über die Militärjunta 1980, den Putschversuch vom 15. Juli 2016, die Struktur des türkischen Staates und die aktuelle politische Entwicklung in der Türkei spielen im vorliegenden Verfahren keine Rolle.”
Angesichts eines Strafverfahrens, das im wesentlichen auf Druck des türkischen Staates geführt wird, musste diese Begründung ein mal mehr das Misstrauen der Angeklagten in die Unbefangenheit der Richter bestärken.Nachdem die Angeklagten über diesen Beschluss informiert worden waren, stellten alle Verteidigerteams Befangenheitsanträge gegen die drei beteiligten Richter., darunter den Vorsitzenden.
Mit ihrer Begründung machten die Richter noch ein mal deutlich, dass sie historische und aktuelle politische Situation in der Türkei in diesem politischen Verfahren ignorieren wollen. Dies ist aus der Sicht des Staatsschutzsenates und des Bundesanwaltschaft logisch und zwingend: würde das Gericht die historische und aktuelle politische Situation, die systematisch rassistische Unterdrückung durch die türkische Regierung berücksichtigen, könnten sie Gruppen, die gegen diese Unterdrückung Widerstand leisten nicht als „terroristische Vereinigung“ verurteilen.
Das Gericht muss daher all diese Tatsachen ignorieren. Problematisch ist für das Gericht nur, dies so offen auszusprechen, denn offiziell wird ja ein Prozess nach der Strafprozessordnung durchgeführt, in dem auch alle entlastenden Gesichtspunkte berücksichtigt werden sollen. Die Verteidigung hat in ihren Befangenheitsanträgen deutlich gemacht, dass ein solcher Beschluss den unbedingten Willen des Gerichts zur Verurteilung zeigt.
Mit diesem Beschluss machen die Richter aber auch deutlich, dass alle vom Senat in der Hauptverhandlung ausgegangenen Signale, man wolle die Angeklagten als politische Personen und die Situation in der Türkei sehr wohl ernst nehmen, nichts bedeuten.
Der Beschluss vom 1. Dezember 2016 stellt insoweit einen Paradigmenwechsel da. Ohne Berücksichtigung der Verhältnisse in der Türkei soll nur die Frage der „terroristischen Vereinigung“ eine Rolle spielen. Dies drückten die Richter so aus: „[In diesem Verfahren] geht es vielmehr um die Frage der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland in einem begrenzten Zeitraum […]. Auch wenn der TKP/ML Anschläge vorgeworfen werden, die in der Türkei stattgefunden haben, so ist doch nicht ersichtlich, dass die übersetzten Unterlagen [, die sich mit Verfolgung der TKP/ML in der Türkei oder dem Militärputsch von 1980 befassten,] eine Bedeutung für das vorliegende Strafverfahren haben. Vielmehr scheint es sich um Unterlagen zu handeln, die eher von allgemeinem Interesse sind oder eine Verfolgung der TKP/ML in der Türkei zum Gegenstand haben.
Damit setzen sich die Münchner Richter in Widerspruch zu der Rechtsprechung anderer OLG, die sich z.B. in Verfahren gegen PKK-Mitglieder regelmäßig mit der Situation in der Türkei auseinandersetzen und diese in ihren Urteilen sehr kritisch bewerten und zugunsten der dort Angeklagten bei der Strafzumessung berücksichtigen.
Zu dieser neuen Linien passend, versuchte das Gericht unter Berufung auf den Beschleunigungsgrundsatz um 16.30 nach dem alle Befangenheitsanträge gestellt worden waren, noch weiter zu verhandeln, anstatt die Hauptverhandlung zu unterbrechen, wie es angesichts der Uhrzeit angemessen gewesen wäre. Allerdings scheiterte das Gericht einmal mehr an seinen mangelnden Ressourcen: Es konnte die von ihm angeordnete Verlesung einer Urkunde nicht vornehmen, weil nicht mehr ausreichend Gerichtsdolmetscher anwesend waren und musste deshalb die Hauptverhandlung unterbrechen.