Gericht eskaliert die Auseinandersetzung mit dem schwerkranken Angeklagten Mehmet Yeşilçalı.
Zu Beginn der Hauptverhandlung wurde deutlich, dass das Gericht dass das Gericht die Beweisaufnahme nicht wie geplant durchführen kann, nachdem in der letzten Hauptverhandlung der Sprachsachverständige, der wesentliche Teile der einzuführenden Dokumente auf ihre Richtigkeit überprüfen sollte, von seiner Sachverständigentätigkeit entbunden werden musste. An einer Stelle begründete der Vorsitzende die überraschend angeordnete Verlesung von Dokumenten zum persönlichen Werdegang der Angeklagten damit, dass die Beweisaufnahme nunmehr neu geordnet werden müsste. Wie sich das Gericht diese Neuordnung vorstellt, hat kommuniziert es nicht:
Zahlreiche begonnenen Einzelstränge der Beweisaufnahme, alleine vier nicht abgeschlossene Selbstleseverfahren, die Überprüfung von Stimmidentifikationen durch sich abgesprochene BKA-Übersetzer, die Einführung von durch Spionage des türkischen Geheimdienstes in Deutschland gewonnener Informationen, sowie von der Polizei gelöschte Überwachungsvideos, sollen zum Abschluss kommen.
Zusätzlich sorgt die gesundheitliche Situation des Angeklagten Mehmet Yeşilçalı für Probleme: dieser leidet unter psychischen Problemen, die das Ergebnis von Foltererfahrung in der Türkei sind. Weil diese Probleme unter den Bedingungen der Untersuchungshaft nicht behandelt werden können, sondern sich im Gegenteil verstärken und chronifizieren, kann er nicht länger als eine bis 1 ½ Stunden am Stück verhandeln. Er ist oftmals am Nachmittag nicht mehr in der Lage, der Verhandlung zu folgen. Eine erneute Entscheidung über seine weitere Haftfähigkeit und die Fortdauer der Untersuchungshaft muss demnächst getroffen werden. Vor diesem Hintergrund wäre es juristisch geboten, wegen der Verfahrensverzögerung durch die die ständigen Probleme des Gerichts bei der Beweisaufnahme den Haftbefehl zumindest gegen den schwer erkrankten Mehmet Yeşilçalı auszusetzen.
Das Gericht begegnete dieser schwierigen Situation heute mit einer echten Provokation, die deutlich macht, dass Mehmet Yeşilçalı um jeden Preis, gegebenenfalls auch den Preis, seine Gesundheit dauerhaft zu zerstören, in Untersuchungshaft gehalten werden soll: das Gericht bestellte heute einen Facharzt für Psychiatrie und Psychologie – Forensische Psychiatrie aus dem Klinikum Haar, der anstatt dem ständig anwesenden Arzt die Verhandlungsfähigkeit überprüfen sollte. Dieser Arzt hatte den Angeklagten Yeşilçalı zuvor noch nie gesehen. Als am Nachmittag die Frage der weiteren Verhandlungsfähigkeit anstand, unterbrach der Vorsitzende zunächst die Verhandlung um eine Stunde. Erst nach zwei Stunden, um 16 Uhr wurde die Verhandlung dann fortgesetzt. Nur am Rande: die Angeklagten verbringen solche Wartezeiten im Keller des Gerichtsgebäudes in fensterlosen, stickigen Zellen. Um 16 Uhr, die Angeklagten haben dann aufgrund des Transports bereits einen 8-stündigen Tag am Gericht hinter sich, verkündete das Gericht, der neuhinzugezogene Arzt habe mitgeteilt, der Angeklagte Yeşilçalı könne noch eine weitere Stunde weiterverhandeln. Den VerteidigerInnen des Angeklagten war eine Teilnahme an dem Gespräch mit dem berichterstattenden Arzt verweigert worden. Nun wurde ihnen verweigert, Fragen an den Arzt zu stellen. Dessen Bericht wurde lediglich vom Senat in kurzen, wenig klaren Sätzen zusammengefasst.
Mehmet Yeşilçalı versuchte daraufhin selbst dem Gericht zu erklären, dass er sich nicht mehr konzentrieren und der Verhandlung folgen könne und zog den Sinn der ärztlichen Untersuchung in Frage, da ihm dort hauptsächlich die Frage gestellt worden sei, ob er suizidgefährdet sei. Er war der Meinung, das könne doch wohl kaum das einzige Kriterium für die Frage sein, ob er der Verhandlung folgen kann. Dies provozierte den Vorsitzenden offensichtlich so sehr, dass er den Angeklagten lautstark anbrüllte, er solle jetzt schweigen. Auch der Verteidiger des Angeklagten, der sich erhob und deutlich machte, dass sein Mandant das Recht habe, sich zu erklären, musste sich nunmehr anschreien lassen, er solle sich hinsetzen. Die Verhandlung geriet nunmehr etwas aus den Fugen, der Senat verließ trotzig und fluchtartig den Saal.
Einige Minuten später, bei Wiedereintritt des Senats hatte sich der Vorsitzende etwas beruhigt. Er verkündete, er werde keinerlei Stellungnahmen zu der Auseinandersetzung um die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten Yeşilçalı zulassen, dies solle schriftlich erfolgen. Offensichtlich scheut sich das Gericht immer noch, seinen Umgang mit dem schwerkranken Angeklagten, öffentlich zu machen.
Die Verteidigung kritisierte nochmals deutlich, dass der Senat keine umfassenden Informationen zu dem Bericht des neuen Arztes gegeben hatte -insbesondere keine Fragen zuließ. Selbst die Information, der Arzt habe mitgeteilt, der Angeklagte sei noch eine Stunde verhandlungsfähig war völlig unzureichend, weil unklar: zwischen dem Gespräch des Arztes mit dem Angeklagten und dem Wiedereintritt in die Verhandlung lag schließlich bereits eine Stunde. Es war also gar nicht klar, welcher Zeitpunkt gemeint war. Darüber hinaus hatte der Vorsitzende nach Wiedereintritt mitgeteilt, das „geplante Beweisprogramm“ würde „heute“ noch durchgeführt. Damit war offensichtlich, dass das Gericht eigentlich nur einen Grund suchte, seine „Planung“ durchzusetzen. Schließlich erklärte die Verteidigung Yeşilçalı, sie brauche eine Unterbrechung, um zu versuchen, mit ihrem Mandanten zu besprechen, ob ein Befangenheitsantrag gestellt werden muss. Daraufhin unterbrach der Vorsitzende die Verhandlung bis zum kommenden Freitag.
Es ist heute deutlich geworden, dass das Gericht um jeden Preis, auch auf Kosten der endgültigen Zerstörung der Gesundheit des Angeklagten Yeşilçalı an der Untersuchungshaft festhalten will, weil es glaubt, auf diese Weise Druck auf die Angeklagten ausüben zu können. Dies ist im deutschen Strafprozess, in dem oftmals die Untersuchungshaft als eine Art Mittel zur Erpressung von Geständnissen genutzt wird, nichts Neues. Skandalös ist allerdings, dass dies bei einem schwerkranken Menschen passiert. Das Gericht und die Bundesanwaltschaft hatten dem Angeklagten Yeşilçalı vor nicht all zu langer Zeit (vgl. Erklärung der Verteidigung Yeşilçalı vom 22.05.2017) angeboten, ihn im Falle eines Geständnisses zu drei Jahren Haft zu verurteilen, was auf Grund der langen Untersuchungshaft zu seiner unmittelbaren Freilassung geführt hätte. Diesen Deal hat der Angeklagte ausgeschlagen. Nunmehr hat er über 2 ½ Jahre Untersuchungshaft hinter sich. Eine weitere Inhaftierung lässt sich also bereits ohne seine schwere Erkrankung kaum begründen.
Wir erleben eine klare Form von Feindstrafrecht, das durch die völlige Ignoranz von Verhältnismäßigkeitsabwägungen und konstruktiven Lösungsansätzen geprägt ist. Von juristischem, prozessualem Vorbringen lässt sich der Senat zur Zeit nicht beeindrucken. Allenfalls der Druck der Öffentlichkeit kann hier den Weg zurück zu einem Strafprozess erzwingen, bei dem die Angeklagten nicht nur als Feinde gesehen werden, die besiegt werden müssen, koste es was es wolle.